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Zen und Aikido

Stanley Pranin im Gespräch mit Shigeo Kamata und Kenji Shimizu über Zen und Aikido

Übersetzung aus dem Englischen von Hartmut Melzer und Ursula Schmitt-Lellbach

(aus: Der Kreis, Nr. 13, 1991)

Stanley Pranin: Morihei Ueshiba war zweifelsohne von der Shinto-Religion beeinflusst, besonders von der Omote-kyu des Onisaburo Deguchi. Zen war jedoch ein einflussreicher Faktor für die Kampfkünstler der Meiji-Ära. Können Sie einige dieser Leute nennen?

Shigeo Kamata: Ich glaube, Tesshu Yamaoka war der Berühmteste derer, die stark vom Zen beeinflusst waren. Sein Muto-ryu-Stil rührt vom Zen her. Die Muto-ryu wurde während der Regierungszeit des Shoguns Iemitsu Tokugawa (1623-1651) von Muneyori Yagyu (berühmter Schwertfechter, 1571-1646, der Yagyu-Shingake-ryu. Yamaokas Muto-ryu verkörpert die Idee des Yagyu-ryu, muto (Schwertlosigkeit)) entwickelt. Er schrieb ein Buch mit dem Titel ‚Heiho Kadensho’. Es besteht aus zwei Bänden, in denen der Einfluss des Zen sichtbar wird: ‚Setsuinto’ (todbringendes Schwert) und ‚Katsujinken’ (lebensspendendes Schwert).

S.P.: Ich glaube, dass Jigoro Kano und andere Fachleute der traditionellen Kampfkünste während der Meiji-Ära ebenso vom Zen beeinflusst waren.

S.K.: Ja, das ist wahr. In der Edo-Periode wurden grosse Teile der Zen-Philosophie von der Schwertkunst übernommen, und folglich ist es nur natürlich, dass die Kampfkünstler dieser Zeit vom Zen geprägt waren, obwohl es einige gab, die es zurückwiesen.

Wenn ein Kampfkünstler jung ist, ist sein Schwert bloss ein ‚tötendes Schwert’, aber wenn er Reife erlangt, zieht er nicht einmal sein Schwert, geschweige denn, dass er einen Menschen tötet. Wir können diesen Wandel in der Schwertkunst von Bokuden Tsukahara sehen, der in seinen späteren Tagen nicht mehr darauf abzielte, mit seinem Schwert zu töten. Sieht man das negativ, so kann man diesen Wandel als Schwäche betrachten. Dabei waren es geistige Faktoren, die die Natur seiner Schwertkunst veränderten.

Auch Ueshiba Sensei scheint in seiner Jugend nur trainiert zu haben, um stark zu werden, aber nachdem er zur Omote-kyo Religion kam, konnte er die Kraft des Universums wahrnehmen, eine so viel grössere Kraft als seine eigene. Danach wandelte sich sein Aikidō von blosser Technik in eine Kunst, die auch eine mystische Kraft beinhaltete. Ich denke, wer eine Kampfkunst betreibt, strebt zuerst danach, stark zu werden. Aber schliesslich sind die Möglichkeiten der Kunst erschöpft, und während man versucht, diesen toten Punkt zu überwinden, kann man Gott wahrnehmen oder den Geist des Universums oder Zen oder irgendetwas in der Art.

S.P.: Ueshiba Sensei pflegte zu sagen: „Aikidō basiert auf dem Schwert“. Wie erklärte er Ihnen die Bedeutung des Schwertes im Aikidō?

Kenji Shimizu: Er erklärte es nicht sehr genau. Tatsache ist, dass er sehr ärgerlich wurde, wenn er uns mit Waffen üben sah. Ich denke, er war der Auffassung, dass die Basis des Aikidō das taijutsu (waffenlose Techniken) ist, und wir als noch untrainierte Schüler nichts lernen sollten, was nicht wesentlich für das Aikidō war. Zuerst hatten wir ‚waffenlose Techniken’ zu lernen, damit wir unseren Körper trainierten. O-Sensei war streng mit unserem Training und beobachtete uns gerade dann, wenn wir uns seiner Gegenwart nicht bewusst waren. Und wenn unser Training nicht seine Billigung fand, ermahnte er uns mit lauter Stimme. Er beobachtete unser Training sehr sorgfältig. Ueshiba Sensei zeigte uns oft die Prinzipien des Aiki (aiki no riai) beim Benutzen eines Schwertes. Ich glaube, heutzutage benutzen zu viele Leute das Schwert beim Aikidō. Und lebte O-Sensei noch, er würde sie heftig schelten und sagen: „Dies ist kein Aikidō!“.

O-Sensei gab uns ein Schwert und sprach: „Schlagt mich damit!“. Aber wir konnten es nie, weil wir von seinem Geist so überwältigt waren, als wären wir blosse Puppen. Er nahm unseren Geist so gefangen, dass wir ihn nicht schlagen konnten.

S.P.: Man könnte sagen, dass Sie geschlagen waren, noch ehe Sie ihn angriffen.

K.S.: Ja, wir waren vollkommen verwirrt. Ich hörte, dass er in seinen Anfängen seinen Schülern öfters befohlen hatte, ihn mit einem echten Schwert anzugreifen, aber bevor sie ihn schlagen konnten, hatten sie schon verloren. Ich vermute, dass auch sie von seinem Geist überwältigt waren wie ein Frosch, der durch den starren Blick einer Schlange hypnotisiert wird und nicht davonhüpfen kann. In den Kampfkünsten, was in meinem Fall Aikidō ist, kann die Kraft des Geistes ohne Rücksicht auf das Alter geschult werden. Daher sollten wir uns, selbst wenn unser Gegner ein alter Mann ist, nicht erlauben, nachlässig mit unserem ki umzugehen. Zum Beispiel kann ein junger Mann vom ki eines älteren Gegners so überwältigt werden, dass er keinerlei Technikern anwenden kann. Man sagt, wenn Tesshu Yamaoka sein Schwert langsam hob, war sein Gegner gezwungen, seinen Kopf darunter zu bringen; mit dem Resultat, dass er niemanden tötete. Sobald ein Gegner seinen Kopf in einer Verneigung beugte, gab es für Tesshu keine Notwendigkeit, ihn zu töten.

S.K.: Ich habe den Eindruck, Tesshu war ein Mensch mit einem sehr starken und kraftvollen Charakter, während er gleichzeitig ein natürlicher und entspannter Mann war. Das gleiche kann man über sein Schwert sagen. Obwohl er sehr lange trainiert hatte, stellte er seine Kunstfertigkeiten nie zur Schau.

S.P.: Kamata Sensei, in Ihrem Buch ‚Zen und Aikidō’ beschreiben Sie den zentralen Gedanken von Takuan (ein berühmter Priester, 1573-1645, der Zen Rinzai Sekte; er schrieb mehrere Briefe über Zen und Schwertmeisterschaft an seinen Freund Munenori Yagyu), den Geist menschlichen Daseins mit dem des Universums in Einklang zu bringen. Ich denke, dies ist das wichtigste Ziel. Ich habe gehört, dass Ueshiba Sensei sagte: „Aiki ist Liebe“. Glauben Sie, dass es gemeinsame Punkte zwischen den Gedanken von Takuan und Ueshiba Sensei gibt?

S.K.: Ich glaube nicht, dass Ueshiba Sensei Takuans Buch gelesen hat, denn er war Anhänger der Omote-Religion. Aber obwohl diese beiden Männer ihre Gedanken in verschiedenen Worten ausdrückten, haben sie tatsächlich einige Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel gebraucht Takuan nie das Wort ‚Liebe’, dies ist ein moderner Begriff, stattdessen gebrauchte er den Ausdruck ‚allumfassende Umarmung’. Nach Takuan ist Liebe die Umarmung aller Dinge um uns herum. Diese Liebe ist völlig verschieden von der allgemeinen Auffassung davon, und Takuan argumentierte:

Wenn der Mensch in der Lage ist, seinen Gegner zu erfassen, ist er imstande, alle seine Gegner zu erfassen, auch wenn er von fünf oder zehn gleichzeitig angegriffen wird.

S.P.: Ich habe gehört, dass O-Sensei sagte: „Auch wenn es nur einen einzigen Feind gibt, müssen wir agieren, als wären zehntausend da; sind viele Feinde da, müssen wir sie behandeln wie einen einzigen.“ Ich denke, das ist dasselbe, was Sie gerade gesagt haben.

S.K.: Musashi Miyamaoto sagte ebenfalls das gleiche in seinem ‚Buch der fünf Ringe’. Aber wenn sich ein Mensch ruhelos und unbehaglich fühlt, kann er nicht in der Weise reagieren, die Takuan beschrieb. Einmal umzingelt von zehn Gegnern, wird er zurückschrecken, egal wie gut man ihm beigebracht hat, zehn Feinde als einen zu betrachten. Sein Körper wird unfähig sein, sich zu bewegen, geschweige denn, sich in einem echten Kampf zu bewähren.

Bei den Kampfkünstlern heisst es seit alters her, dass es im Fall eines echten Konfliktes für den Ausübenden schwer ist, in die ma-ai (Schlagweite) seines Gegners einzutreten. Um damit umzugehen, hat die Jigen-ryu aus Satsuma (heute Präfektur Kagoshima) eine Übung, bei der ein Vorwärtsschritt in des Gegners ma-ai den eigenen Körper in die Reichweite des Gegners bringt. Bei einem echten Schwert beträgt die Distanz zwischen beiden, selbst wenn sie wie ein Meter aussieht, in Wirklichkeit drei Meter. Darum kann der Kontrahent seinen Gegner nicht niederschlagen und ihn höchstens geringfügig verletzen. Die Kagoshima Leute trainierten daher zuerst, in des Gegners ma-ai zu treten. Tritt ein Kontrahent einmal in des Gegners ma-ai, kann er geschlagen werden. Er riskiert also sein eigenes Leben, um den Gegner zu schlagen. Er ist darauf vorbereitet, niedergeschlagen zu werden, und ist darin geübt, seinen Widersacher zu schlagen, indem er den Gegner zweimal kontert. Deshalb ist es unmöglich, das Eintreten in die Reichweite des Gegners mit einem echten Schwert zu üben.

K.S.: Im Japanischen sagen wir niku o kirashite hone o kiru (Wenn der Gegner Dein Fleisch schneidet, schneide ihn bis auf die Knochen).

S.P.: Shimizu Sensei, Sie haben viele Jahre im Ausland unterrichtet. Ich denke, Ausländer und Japaner differieren leicht in ihren Gründen, AikidÜ zu erlernen.

Sind Sie jemals von Ihren ausländischen Studenten zu philosophischen Problemen befragt worden?

K.S.: Ja, das bin ich. Am häufigsten werde ich gefragt, warum nur eine begrenzte Zahl Japaner Aikidō erlernt, trotz der Tatsache, dass sie leichten Zugang zu solch einer grossartigen Kampfkunst haben. Sie fragen mich auch, was ich über rei (Etikette) und bu (Kriegskunst) denke.

S.P.: Was antworten Sie ihnen?

K.S.: Ich habe es schwer, Antworten zu finden. Aber es gibt tatsächlich Japaner, die fleissig Aikidō studieren. Auf die zweite Frage antworte ich folgendes: Es ist besser, einen Sieg ohne Kampf zu erreichen, und der Ausspruch rei wa sonae nari (Etikette ist Vorbereitung) ist die Weisheit, die wir anwenden, um Zwietracht zu vermeiden. Aber wenn wir schlechtes Benehmen aus Feigheit übersehen, begegnen wir einer Situation, wo ‚Gewalt der Herr und Gerechtigkeit der Diener ist’; die Welt würde durch das Gesetz des Dschungels regiert werden. Von jeher wird gesagt, dass wahre Vorbereitung üble Manieren anprangert und die Gerechtigkeit verteidigt. Wir nennen diese Vorbereitung bu (Kampfkunst). Aikidō muss erlernt werden, damit der Geist geschult wird, üble Manieren brandmarken zu können, Gerechtigkeit zu bringen und zu lernen, Gefahr intuitiv wahrzunehmen, Körperbewegungen zu erfassen und mit ihnen entsprechend und unmittelbar fertig zu werden. Ich habe den Eindruck, dass sowohl die Individuen als auch die Gesellschaft, die sich der Verhältnisse nicht bewusst sind, grundsätzlich schwach sind. Eines Tages fragte mich jemand, der meinem Dōjō beitreten wollte: „Man sagt, Aikidō sei Zen in Bewegung, ich weiss nichts über Zen. Kann ich Zen erlernen?“

S.K.: Ich glaube nicht, dass er Zen lernen muss. Das Trainieren der Hüfte ist Ziel des Aikidō, wie auch des Zen. Wir gebrauchen das Wort seika-tanden und meinen die Hüfte. Dieser technische Ausdruck bezieht sich auf die zehn Zentimeter-Region des Unterleibs. Diesen Teil müssen wir trainieren, im Aikidō und im Zen. Shimizu Sensei rät uns, die Kreisbewegungen mit den Hüften auszuführen. Das ist schwer zu üben. Zuerst beschreibt die Hüfte einen einfachen Kreis, dann müssen wir diese Übung in drei Dimensionen ausführen, viele Kreise beschreiben. Takuan präsentierte Munenori Yagyu eine ähnliche Theorie.

S.P.: Wann wurde der Ausdruck seika-tanden zuerst gebraucht?

S.K.: Ich kenne das genaue Datum nicht, aber es wurde durch die chinesische Heilmedizin eingeführt. Chinesische Medizin wurde zuerst in der Heian Ära in Japan eingeführt. Der Kern der Lehre ist die Ausbildung von seika-tanden, ki und Atmung, welche im seika-tanden entsteht. Im Zen trainieren wir seika-tanden und ki durch meditatives Sitzen im Za-Zen. Diesen Effekt des Za-Zen kann man im Aikidō sehen, obwohl wir uns dessen im täglichen Leben nicht bewusst sind. Aber wenn einem Ausübenden etwas Ungewöhnliches widerfährt, wird er nicht sehr beunruhigt sein.

K.S.: Kamata Sensei hält viele Vorlesungen, und er sagt, sein Geisteszustand hat sich allmählich geändert, seit er begonnen hat, Aikidō zu studieren.

S.K.: Manchmal habe ich in grossen Hallen wie der Hibiya-Halle Vorlesungen gehalten und Lampenfieber gehabt. Aber fünf Jahre nachdem ich angefangen habe, Aikidō zu lernen, begann ich zu denken, ich könnte das Publikum in mir aufnehmen, selbst wenn es aus 1.000 Leuten bestand.

K.S.: Kamata Sensei hielt anlässlich unseres Kagamibiraki (erstes Training im Jahr) im Januar letzten Jahres eine Vorlesung im Dōjō, und es war grossartig. Das Publikum war völlig in seine Vorlesung versunken. Ich bin tief davon beeindruckt, dass sich Ihr Training mit jeder Trainingsstunde verbessert. Sie trainieren so hart, dass Sie in Schweiss gebadet sind. Gewöhnlich wird gesagt, dass, wenn ein Gelehrter wie Sie, ein eremitierter Professor der Universität Tōkyō, beginnt, Leichtathletik zu trainieren, er dazu tendiere, es mit seinem Verstand, nicht mit seinem Körper zu tun. Wir nennen es tonosama-keiko, womit dilettantisches Üben gemeint ist.

Als O-Sensei noch lebte, diente ich als uke für einige Ehrenschüler von O-Sensei, und die meisten von ihnen machten tonosama-keiko. Dies ist nur natürlich. Sie waren nicht mehr jung, und sobald sie müde wurden, wollten sie sich ausruhen. Aber Kamata Sensei ruht selten, bevor er von Schweiss durchnässt ist und sein Herz hämmert. Deshalb kann er sein ganzes Training in sich aufnehmen, es ‚kauen und verdauen’. Obwohl ich sein Lehrer bin, kann ich, so oft ich Kamata Sensei üben sehe, von seiner Haltung lernen.

S.P.: Ich möchte etwas über Ihr Buch ‚Zen und Aikidō’ fragen, in dem Sie schreiben: „Jedes Leben hat eine grausame Beziehung zu den Leben anderer. Ein Leben kann sich nur mit dem Preis des Todes anderer behaupten.“ Was ist damit gemeint?

S.K.: Es bezieht sich auf den tödlichen Kampf. In einem erinzelnen Kampf wird ein Mann, wenn er seinen Gegner nicht töten kann, von ihm getötet. Aber wie lange er diese Art des Kampfes auch fortsetzt, früher oder später wird er getötet. In alten Tagen dienten einige Menschen als gedungene Mörder. Aber die meisten von ihnen wurden innerhalb von drei Jahren nach Beginn ihrer Tätigkeit getötet, egal wie stark sie waren. Es war nicht wegen ihrer Technik, es war ihr Schicksal oder Verhängnis. Am Ende der Edo-Periode gab es eine Gruppe von Samurai, die Shisengumi genannt wurden. Sie waren Attentäter. Aber ungeachtet ihrer Stärke entkam keiner von ihnen dem Tod. Entweder sie fielen im Kampf oder sie wurden hingerichtet.

S.P.: Kamata Sensei, was ist Ihr Hauptmotiv, Aikidō zu praktizieren?

S.K.: Mich selbst zu trainieren. Für gewöhnlich verbrachte ich meine Zeit mit Bücherschreiben. Schliesslich bekam ich Schreibkrämpfe und war unfähig, meine Hände zu bewegen. Ich versuchte es mit Akupunktur und ging ins Krankenhaus, aber nichts half. Eines Tages sagte jemand zu mir: „Beim Aikidō bewegen die Leute ihre Hände während des Aufwärmens. Warum versuchen Sie es nicht mit Aikidō?“ So kam ich ganz pragmatisch zum Dōjō mit der Absicht, meine Hände zu heilen. Aber nach vier oder fünf Jahren Training begriff ich, dass ich nicht nur Aikidō erlernt hatte, um meinen Körper zu heilen, sondern aus einem tieferen Grund, mit Ueshiba Senseis Worten, aus ‚Liebe’. Mit anderen Worten, das Wichtigste im Aikidō ist, das eigene ki mit dem ki eines anderen in Einklang zu bringen.

Wenn es unsere Absicht ist, ki mit anderen Personen zu harmonisieren, müssen wir geistig reifen und sollten nicht wählerisch sein und sagen: „Ich mag diesen oder jenen nicht.“ Ich merkte, dass ich mich nach und nach um solche Dinge nicht mehr kümmerte. Ich kann diesen Geisteszustand nicht sehr gut ausdrücken, aber mit den Worten Ueshibas, es kann ‚Liebe’ sein.

S.P.: Ich habe gehört, dass O-Sensei Geschichten über Gott erzählte, und es muss sehr schwer für Sie gewesen sein, als Sie in den Zwanzigern waren, diese zu verstehen. Denken Sie, dass Sie nun nach dreissig Jahren einige Teile seiner Geschichten in Ihrem Aikidō-Unterricht verwerten?

K.S.: Um die Wahrheit zu sagen, zu jener Zeit konnte ich etwa 70% der Geschichten nicht verstehen. Aber als ich uchi-deshi von O-Sensei war, übte Herr Takeo Kimura, auch ein deshi, mit mir. Ich glaube, er war zu dieser Zeit Bauminister. Eines Tages sagte er: „Die Geschichten, die uns Ueshiba Sensei erzählt, sind sehr schwer zu verstehen.“ Weil sich die meisten mit Gott befassten, brachten sie uns in Verlegenheit. Schlimmer noch war, dass er sie uns erzählte, als spräche er direkt mit Gott. Ich begleitete O-Sensei und trainierte direkt unter ihm. Eines Tages verlor er seine Geduld vor mir. Die anderen Schüler dachten einstweilen, ich hätte einen Fehler gemacht, und nachdem er in sein Zimmer gegangen war, fragten sie mich: „Was, zum Teufel, hast Du getan?“ Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Eine Stunde später tauchte O-Sensei aus seinem Zimmer auf und sagte zu mir: „Shimizu, vor kurzem machte Gott mich ärgerlich!“ Das ware alles, er sagte nichts, um sich zu entschuldigen. Dann sagte er: „Aikidō ist odo no kamiwaza, verstehst Du, Shimizu?“ (odo ist ein enges Schleusentor, kamiwaza ist das Werk Gottes). Er benutzte dies immer. Es gab überhaupt keinen Sinn, und ich war vollkommen verwirrt.

Aber ich denke, ich war nicht der einzige, der nicht verstehen konnte, was er sagte. Ich glaube, O-Sensei war ein Kampfkünstler von einer Grösse, die nur einmal in 50 oder 100 Jahren erscheint, obendrein war er etwas exzentrisch, er war kein gewöhnlicher Mann. Die ganzen Jahre war mir dies bewusst.

Zu dieser Zeit erzählte er uns viele Geschichten, und seit kurzem denke ich, dass ich angefangen habe, die Bedeutung von einigem zu verstehen. Wenn wir Aikidō betreiben, tendieren wir dazu, die Technik zu betonen. Zum Beispiel, wenn ich nikyo mache, bin ich fähig, meine Aufmerksamkeit auf meine Handgelenke zu richten, und wenn ich shiho-nage mache, versuche ich, meine Handgelenke zu biegen.

Eines Tages sah mich O-Sensei üben und sagte: „Du machst es falsch!“ Er sagte dies, als wäre ich typisch für viele der anwesenden Schüler gewesen. „Wende Techniken mit der geistigen Einstellung an, die Erde zu umarmen. Sie sind nicht effektiv, solange Du sie ängstlich anwendest.“

Ich war damals völlig deprimiert, dies zu hören. Aber nach vielen Jahren habe ich nach und nach verstanden, was er meinte. Ausserdem verstand ich die Bedeutung von ki in seinen Worten: „Kraft ist endlich, ki ist unendlich.“ Ich verstand, dass ki über die Jahre entwickelt und geschult werden will. Deshalb hatte O-Senseu trotz seines Alters eine solche überraschende ki-Energie.

Aufrichtig gesagt, er hätte seine Geduld nicht so verlieren können, wenn er nicht eine solche starke ki-Energie gehabt hätte. Er war auf einer anderen Ebene.

S.P.: Ich glaube, wenn wir bei der Anwendung der Techniken beginnen, uns unserer selbst bewusst zu werden, stockt unsere Technik; je mehr wir wünschen, dass sie gut gelingt, desto mehr verschlechtert sich die Ausführung. Je besser wir sein wollen, desto schlechter werden wir. Ich denke, das ist der Grund, warum wir über mushin (Nicht-Denken) nachdenken müssen.

S.K.: Als ich begann, ‚Zen und Aikidō’ zu schreiben, hatte ich die Philosophie von Takuan gelesen. Ich war geprägt von seiner Philosophie und schrieb über Aikidō. Ich hatte von Shimizu Sensei gehört, Aikidō basiere auf Kreisbewegungen. So fragte ich mich, ob ich dies mit der Theorie Takuans oder der der Yagyu-ryu verbinden könnte. Wie Sie wissen, hat Aikidō kein philosophisches System. Obwohl einige Bücher über die Worte von Morihei Ueshiba geschrieben wurden, sind sie nicht gut verstanden worden.

Die Philosophie japanischer Kampfkünste kann durch die Gedanken von Takuan erklärt werden, die Zen sind. So dachte ich, ich sollte in der Lage sein, Aikidō, eine japanische Kampfkunst, mit Takuan und Zen zu verbinden. Das war’s, was ich versuchte zu tun. Ich machte mir über sechs Monate wähend des Trainings Notizen von Shimizu Senseis technischen Erklärungen. In diesen Notizen entdeckte ich Abschnitte mit derselben Zen-Philosophie, die Takuan beschrieb. Ich denke, Leute, die Aikidō lernen, werden sich auch für Zen interessieren, und es ist leichter für sie, etwas über Zen zu erfahren, wenn sie dieses Buch lesen. Es erklärt die Beziehung zwischen Aikidō und Zen klarer, als wenn man Zen-Bücher liest.

S.P.: Dieses Buch ist sowohl für Japaner als auch für Ausländer, die mehr über die Kultur Japans oder der Kampfkünste wissen wollen, gut.

S.K.: Ja, das Buch darf als Führer in die japanische Kultur angesehen werden, und ich denke, es ist sehr hilfreich, bei der Verbreitung des Aikidō im Ausland die Menschen wissen zu lassen, dass das Aikidō in seiner Philosophie viele grundlegende gemeinsame Punkte mit den traditionellen japanischen Kampfkünsten gemein hat.

S.P.: Wir haben gerade dieses Buch ins Englische übersetzt und veröffentlicht. Können Sie unseren Lesern einige Anregungen geben, was sie aus Ihrem Buch lernen können?

S.K.: Musashi Miyamoto hatte einen Spruch: chotan sekiren. Damit ist das harte Training von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gemeint. Tan in chotan bedeutet dreihundert Tage trainieren, während das ren in sekiren dreissig Jahre trainieren bedeutet. Musashi Miyamoto sagte in seinem ‚Buch der fünf Ringe’, dass ein Fachmann dreissig Jahre für seine Schwertkunst trainieren muss. Er fügte noch hinzu, man solle nicht hastig lernen. Er sagte: „Lerne Schritt für Schritt ... Schreite Schritt für Schritt fort.“ Ich denke, dies ist die wichtigste Sache für Japaner und Ausländer beim Erlernen des Aikidō.

K.S.: Im Aikidō gibt es keinen Wettbewerb. Deshalb sind wir geneigt, die ursprüngliche Absicht zu vergessen. Wir vergessen die Ernsthaftigkeit und werden stereotyp. Daher ist das Wichtigste beim Erlernen des Aikidō, die ursprüngliche Absicht nicht zu vergessen und sie nicht zu schmälern. Das müssen wir im Gedächnis behalten.

S.P.: Im Aikidō reagieren Menschen in einer Art, die den gewöhnlichen Reaktionen entgegengesetzt ist. Wenn eine Person gestossen wird, wird sie im allgemeinen zurückstossen, wird sie gezogen, wird sie zurückziehen. Im Aikidō bewegen wir uns in entgegengesetzter Weise.

K.S.: Wir leisten unserem Partner keinen Widerstand. Aber wenn wir keinen Widerstand leisten, haben wir keinen Erfolg, wenn wir unseren Partner nicht übertreffen. Zum Beispiel, wenn wir gezogen werden, werden wir weiter gezogen, wenn wir unseren Partner nicht geistig übertreffen. Wir müssen die Kraft unseres Partners umkehren.

S.P.: Ich denke, der wahre Charakter des Menschen drückt sich in seinen Techniken aus, und man kann die Empfindungen des Partners in seinen Techniken sehen. Dieses, so glaube ich, ist einer der faszinierendsten Aspekte des Aikidō. Ich danke Ihnen für die Ausführungen, meine Herren.

Shigeo Kamata: geboren 1927. Schloss sein Studium des Buddhismus an der Komazawa Universität ab. Ph. D. in Literatur. Professor für die Geschichte des Zen-Buddhismus an der Uni Tōkyō. 5. Dan Aikidō; Schüler von Kenji Shimizu Shihan. Ausserdem 1. Dan Kendō. Auitor der Bücher: ‚The History of Chinese Buddhism’, ‚The Vision of Buddha’ und ‚Japanese Buddhist Terminology’. Gemeinsam mit Kenji Shimizu Autor von ‚Zen und Aikidō’.

Kenji Shimizu: geboren 1940. 8. Dan Nihon Budō Kokusai Renmei. Professioneller Aikidō-Lehrer. Einer der letzten uch-deshi im Aikikai Hombu Dōjō; begann 1963 Aikidō zu trainieren. Trat Mitte der 70er Jahre aus dem Aikikai aus und leitet jetzt das Tendōkan Dōjō in Sangenjaya, Tōkyō. Reist regelmässig nach Europa, um hier Seminare zu leiten. Erschien 1986 in der II. Aiki News Friendship Demonstration. Gemeinsam mit Shigeo Kamata Autor von ‚Zen und Aikidō’.

Mit freundlicher Genehmigung von AIKI NEWS, Erstveröffentlichung: AIKI NEWS, Nr. 89, 1