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Kangeiko – Training bei Winterkälte

von Peter Nawrot

‚kan’ bedeutet wörtlich ‚kälteste Jahreszeit’ und ‚geiko’, bzw. ‚keiko’ das ‚Einüben’, die ‚Schulung’ oder das ‚Training’.

Dem verblüfften morgendlichen Spaziergänger, der im nahegelegenen Park, dick verpackt gegen die winterliche Kälte (im Januar/Februar durch nördliche Winde aus Sibirien), noch ein wenig frische Luft schnappt, kann es passieren, das er plötzlich auf eifrig herumhüpfende Gestalten stösst. Bei näherem Hinsehen schaudert ihm dann unter seiner warmen Kleidung. Es handelt sich nicht um andere Spaziergänger, sondern um Budo-Sportler in leichter Kleidung, oft barfuss, die auch nicht herumhüpfen, sondern eifrig trainieren. Kangeiko. Training unter Missachtung der beissenden winterlichen Kälte.

Der Winter in Japan zeigt sich je nachdem, in welchem Teil des Landes man sich befindet, sehr unterschiedlich (bedingt unter anderem durch die mehrere tausend Kilometer lange Nord-Süd Ausdehnung). Beissende Kälte bis April im Norden (Hokkaido, nördliches Honshu), milde Temperaturen oberhalb des Gefrierpunktes im Süden (Kyushu).

Kangeiko findet an vielen Orten statt, meist im Januar, dem kältesten Monat des Jahres. Das winterliche Training im Freien ist allerdings eine Ausnahme, Kangeiko im Dojo (japanische Übungshalle) aber in allen Budosportarten weit verbreitet.

Kangeiko – eine Woche lang jeden Tag Training von 06.30 bis 07.15 Uhr in der Früh. Es gibt kaum geheizte Dojos. Obwohl die Temperaturen unter 0 Grad sinken können und eiskalte Winde vom Meer (Sibirien!) die Lebensgeister lähmen, sind die meisten japanischen Wohnungen nicht zentral beheizt (früher besassen sie nur einen Kotatsu = Füsse heiss, Rücken kalt; heute sind es meist kleine Gasöfen) und schlecht isoliert.

Wenn der Budo-Student morgens das Dojo erreicht, ist er meist schon durchgefroren. Mit klammen Fingern zieht er sich um (manche Dojos besitzen bereits klimaanlagengeheizte Umkleideräume, andere nicht einmal separate Umkleideräume) und versammelt sich mit anderen frierenden Leidensgenossen auf der Matte. Niemand trägt Strümpfe oder Mattenschuhe, wärmende Unterkleidung unter der Sportkleidung (Dogi) ist nicht üblich – hier sei erwähnt, dass nicht nur ältere Japaner bis in den Sommer hinein lange Unterhosen tragen. Da es im Dojo meist kaum wärmer ist als draussen (siehe oben), vermag auch eine Gymnastik den Kðrper nicht richtig zu erwärmen, zumal der unvermeidliche Fusskontakt zum eiskalten Boden (Dojo-Temperatur zwischen 6 und 8 Grad) immer wieder für ein rasches Auskühlen sorgt.

Knapp eine Stunde lang versuchen die Schüler, die beissende Kälte zu vergessen und sich auf das Training zu konzentrieren. Wenn die Füsse gar zu kalt werden, genügt ein Blick auf den Meister, der – selbstverständlich auch nur im Dogi – keine Miene verzieht, obwohl er sich nicht warm trainieren kann wie die Studenten.

Eine Woche lang, sieben Tage. Kaum ein Student springt ab, wer einmal angefangen hat, versucht bis zum Ende durchzuhalten. Es ist ja für einen selbst, nicht für den Meister, nicht für die anderen Schüler.

Nach einer Woche erhält jeder Teilnehmer am Kangeiko (wer durchgehalten hat) eine kleine Urkunde als Anerkennung. Alle freuen sich darüber, doch viel wichtiger ist, dass man durchgehalten hat, dass man zusammmen mit anderen Studentinnen und Studenten sich selbst überwunden hat. Diese Erfahrung erfüllt alle mit Kraft und Sicherheit und stärkt sie für zukünftige Prüfungen und Gefahren, die im menschlichen Leben unvermeidbar sind.