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Natsu Gashuku – Ein Sommerlehrgang vor 20 Jahren

von Peter Nawrot

Es ist wieder so weit, der 3-tägige Sommerlehrgang auf Izu steht vor der Tür. Abfahrt Freitag in der Früh, Rückkehr Sonntagabend, also drei lange Tage Urlaub. Drei Tage hintereinander? Nicht alle Japaner können sich das erlauben (Samstag ist noch für viele ein voller und Sonntag ein halber Arbeitstag), so kommen einige Teilnehmer erst am Samstag und die harten Fälle erst am Sonntag.

Die Anfahrt erfolgt mit dem Shinkansen von Tokyo-Station (schnell), dann mit lokalen Zügen (langsam) und schliesslich mit dem Bus (sehr langsam) bis tief in den Wald, insgesamt 3-4 Stunden. Yugashima Onsen (onsen = heisse Quelle) ist ein Ryokan (traditionelles Gasthaus) mitten im Wald auf der Halbinsel Izu, gelegen an einem klaren Bergbach. Hinter dem Gasthaus geht es über eine lange Treppe hinab zum Rodenburo (Aussenbad), wo die etwa 45 Grad heisse Quelle ununterbrochen sprudelt (wie aus vielen Quellen in dieser vulkanischen Gegend). Nach dem entspannenden Bad im dampfenden Wasser ist man/frau mit wenigen Schritten im eisigkalten Bergbach, kann flussaufwärts zwischen glattgeschiffenen Flussfelsen hindurchmäandern oder in kleinen Flusserweiterungen flussabwärts sogar ein wenig schwimmen. Daneben befindet sich noch ein kleines Schwimmbecken mit Blick auf den Gebirgsbach.

Für die Damen, die sich nicht in das offiziel gemischte Aussenbad wagen (das sind die meisten) befindet sich im Gasthaus ein O-furo (Innenbad) – ohne Aussicht auf Wald und Grün (und damit natürlich auch ohne Einsicht von draussen), ohne Schwimmbecken, ohne Abkühlung im Fluss, eigentlich ohne alles, was diesen Platz interessant gestaltet, aber was tut frau nicht alles, um notwendigen gesellschaftlichen Normen zu genügen. Die zufrieden im Aussenbad dösenden Männer stört die Abwesenheit der besseren Hälften offenbar recht wenig.

Ausländerinnen, die sich aus Unkenntnis oder Vergnügen nicht an diese ungeschriebenen Gesetze halten und sich frech auf die offiziell gemischte Version berufen, bewirken bei ihrem Auf- und Eintritt allerdings, dass alle Männer (Japaner) betont langsam aber sehr zielstrebig, die wertvollsten Teile (nicht den Kopf!) mit einem Tüchlein bedeckt (das sie im Wasser sitzend gerne auf dem Kopf tragen, was nicht allzu vorteilhaft aussieht) das Bad verlassen.

Nun zum Lehrgang. Meist treffen sich 15-20 Teilnehmer aller Altersgruppen. Man schläft in Gruppen zu viert (natürlich nicht gemischt), was aber auch in teuren Ryokans durchaus üblich ist. Das Training findet auf einer Naturwiese direkt neben dem Ryokan statt. Schon Stunden vor dem Beginn versammeln sich die ersten Teilnehmer auf der Trainingsfläche und entfernen Äste, Steine, etc. Dann beginnt das Sprühen, erst die eigenen Beine, dann das Gras. Der begriffsstutzige ungesprühte Ausländer kann nach dem Lehrgang dann etwa drei Wochen lang bei der Kultivation der Stiche der Grasmücken oder Grasfliegen oder sonst einer aggressiven, beisswütigen Insektenart über den Wissensvorsprung der japanischen Teilnehmer reflektieren.

Das Training (im Dogi ohne Hakama) ist ähnlich wie im Tendokan, aber eben ohne Matte bei 35-40 Grad in der Mittagssonne. Shimizu Sernsei trainiert mit, d.h. er wirft die fortgeschrittenen Uke und geht dabei bewusst bis an die Grenzen der Erschöpfung (der Uke). Der harte und trockene Boden ist schnell vergessen, und unvergessen bleibt die Episode, wo Shimizu Sensei zwei Schülern, Nagano und Peter, sagte: „Macht doch mal ein paar Koshi-hage“ und dann nach gut einer halben Stunde deren Reste wieder einsammelte.

Das heisse Bad nach dem Training ist der Himmel auf Erden, trotz der sommerlichen Wärme geniesst man/frau die entspannende und schmerzlindernde Wirkung des warmen Quellwassers, dessen oraler Genuss ebenfalls die verschiedensten Heilwirkungen zeitigen soll. Danach zur Abkühlung in den Fluss oder ins Schwimmbad, und die Welt ist wieder im Lot.

Das reichhaltige japanische Abendessen- dafür sind die Ryokans berühmt – bricht alle Rekorde, und es geht relativ früh ins Bett (auch das reichlich fliessende Bier zeigt seine beruhigende Wirkung). Bedauerlicherweise können sich meistens die Frischluft liebenden ausländischen Teilnehmer nicht mit dem Wunsch nach offenen Fenstern im Schlafraum durchsetzen. Japaner schlafen lieber mit laufender Klimaanlage bei geschlossenen Fenstern und hinter dicken Vorhängen – auch in der herrlichen Bergwelt weit weg von Tokyos Lärm und Gestank.

Um 7 Uhr morgens beginnt das Frühtraining, alle nehmen teil. Wir joggen entlang der morgendlich leeren Waldstrasse bis zu einer grösseren Lichtung, dort leitet ein fortgeschrittener Schüler – mehr oder weniger geschickt – die morgendliche Gymnastik. Mehr noch als der sportliche Nutzen zählt das gemeinschaftliche Erlebnis in wunderschöner Natur. Dann zurück im Laufschritt – wer mag, der spurtet und erhöht noch den Kalorienbedarf für das Frühstück – und dann Versammlung im Ryokan am Frühstückstisch. Das bedeutet die Reste vom Vortag – Frühstücke im Ryokan sind nicht berühmt! – das bedeutet kalter Reis, geräucherter Fisch, heisse Suppe. Nun ja, auch als Ausländer gewöhnt man sich im Laufe der Jahre daran, zumal die riesengrossen ‚japanischen’ Sandwiches, die man sonst überall erhält, spätestens im Magen auf Suppenwürfelgrösse mit entsprechendem Sättigungswert zusammenschrumpfen und keine wirkliche Alternative sind.

Bei - relativ seltenen - Regentagen wird im Haus trainiert, alle mögliche Techniken im Sitzen bilden dann eine bunte und interessante Abwechslung.

Drei Tage sind kurz, aber in Anbetracht der japanischen Urlaubsgewohnheiten wohl schon beinahe zu lang, weil, wie anfangs bereits erwähnt, die letzten Teilnehmer erst am Sonntagvormittag eintrafen – sie hatten sich den Sonntagvormittag extra dafür freigenommen ...