U-Bahn fahren
von Peter Nawrot
Eingezwängt in die morgendliche Masse der U-Bahnfahrer in Tokyo, bis zur Bewegungslosigkeit eingepasst in fremde Schultern, Bäuche und was es da sonst noch gibt – und dann fühle ich den Hustenreiz kommen, langsam und unaufhaltam. Mit zusammengekniffenen Lippen fange ich an zu husten – den verblüfften und entsetzten Mitgefangenen voll in die Gesichter ...
... bisher bin ich noch immer vorher aufgewacht, aber ich ahne es, irgendwann einmal wird das Schicksal zuschlagen und diesen Alptraum wahr werden lassen.
Wer wissen will (und manche Leute beschäftigen sich tatsächlich damit), wieviel Stück Mensch sich stehend maximal (!) auf einem Quadratmeter widerspruchslos zusammenpressen lassen, muss zur Stoss- (und Druck-) zeit in Japan U-Bahn fahren, wo diese Tests täglich durchgeführt werden – am lebenden Objekt.
Es ist immer wieder ein Erlebnis, wenn man morgens verschlafen auf einem mit Menschen gefüllten Bahnsteig steht und der bereits überfüllte Zug (Yamanote-Linie in Tokyo zu Stosszeiten im 3-Minuten Takt) anrollt. Zug hält, zwei dünne Leute steigen aus, 20 dicke wollen einsteigen. Unmöglich? Es geht. Die ersten 10 zwängen sich hinein, die nächsten 5 nehmen Anlauf und rammen sich in die Menge, den Überraschungseffekt und das damit verbundene Ausatmern ‚uuufff’ der bereits Eingestiegenen ausnutzend. Und die letzten 5 klammern sich am Zug fest und kämpfen sich zäh (wie eine Python, die ein Schwein verschlingt) unter Aufbietung aller Kräfte in den Zug (das sind naturgemäss immer Männer, da den meisten Frauen die notwendige Körperkraft und der kamikaze-artige Kampfwille fehlt). Den letzten 5 Kämpfern sind übrigens die allzeit bereiten, alle 5 m am Bahnsteig positionierten Bahnbediensteten behilflich; falls die Kräfte der Fahrgäste in spe nicht (mehr) ausreichen und der ‚Einsteig’vorgang (welch’ ein Wort für dieses Gemetzel!) zu lange dauert (siehe oben, der nächste Zug lauert schon vorm Bahnhof), greifen selbige herzhaft und unverdrossen zu und schieben-pressen-drücken (der interessierte ausländische Fernseh-Tourist kennt diese Bilder...).
Die Türen schliessen sich, heraushängende Aktentaschen, Beine, Prothesen, Jacken und Perücken werden noch hineingestopft. Kalt ist es nicht im Zug, und Festhalten ist auch nicht erforderlich. Die Menschenmasse schwappt träge entsprechend den Zuckungen des Gasfusses (vielleicht ist es auch seine Hand) des U-Bahn-Führers und der Zusammenpressbarkeit menschlichen Materials. Pech, wenn man knochige, sperrige Mitfahrer um sich hat. Glück, wenn es etwas weichere Mädchen sind (hier bessern sich die Bedingungen zusehends und zufühlends durch den Einfluss körperpufferfördernden amerikanischen Fastfoods). Dieses ‚Glück’ sollte man(n) aber nicht in die Hände nehmen (falls man sie überhaupt noch bewegen kann) – ein durchaus aktuelles Problem in japanischen (U-)Bahnen. Pech, wenn die Mitgepressten starke Parfüms oder Haarwasser oder Mundwasser oder was es sonst noch für Segnungen unserer chemischen Heinzelmännchen gibt, in grösseren Mengen über sich geschüttet haben (bei Männern übrigens proportional zum Alter – und der Position? - , das sich so erschnuppern lässt – wen’s auch immer interessieren mag). Man kann ja nicht dauernd an die Decke starren und wie ein ertrinkender Fisch (?) mit dem Mund nach Luft schnappen. Am besten also Augen zu und von den Weiten des Meeres geträumt, Umfallen kann man ja nicht ....
Und dann hält der Zug. Keiner steigt aus. Aber 10 wollen einsteigen. Eine Maus würde die Aufforderung einzusteigen als Beleidigung ablehnen. Unmöglich? Es geht. Die Wissenschaftler rätseln noch, wie das möglich ist. Jedenfalls ist nach Abfahrt des Zuges der Bahnsteig wieder leer (zumindest für einige Sekunden). Da auch auf den Gleisen nichts herumliegt, müssen die Leute wohl im Zug sein. Vermutlich haben alle ausgeatmet ... Shiatsu (Druckmassage auf bestimmte Körperstellen) soll ja sehr gesund sein.
Der normale Berufstätige hat dieses Shiatsu jeden Tag. In der U-Bahn. Ganzkörperdrucktherapie, ohne Aufpreis. Man sollte sich nur beim Frühstück zurückhalten (nun ahnt der verzweifelt mitdenkende Leser bereits, warum viele Japaner ihr Frühstück erst im Büro zu sich nehmen). Wer allerdings glaubt, es wäre möglich, die Fäuste in den Taschen zu ballen (aus Wut), überblickt die Situation nicht. Dafür ist kein Platz, denn es wollen noch Kollegen einsteigen.
Noch eine Warnung. Kurz bevor sich die Türen schliessen, ertönt ein lautes Signal, welches die letzten Kräfte der noch draussen befindlichen aktiviert. Am besten zieht man in diesem Augenblick die Beine an und ‚schwebt’ weiter, man kann ja ziemlich sicher sein, dass man nicht irgendwo hinausgedrückt wird. Und es entbehrt ja nicht eines gewissen Reizes, wenn man nicht weiss, wohin und zu wem man geschwemmt wird.
Das Aussteigen (meist an zentralen Stationen) gleicht einer Explosion, nur heftiger. Alle wollen sich zugleich bewegen, keiner kann. Aber wenn sich der Propfen löst, sind die Folgen nur mit einem Dammbruch zu beschreiben. Jetzt heisst es Füsse bewegen, denn sonst dient man den Nachfolgenden als Fussmatte.
Endlich draussen putzt man sich, sortiert Arme und Beine, sucht dann seine Schuhe, die Jackenknöpfe sind sowieso unauffindbar und rückt das Toupet (falls noch da) wieder an seinen Platz. Gewiefte U-Bahnfahrer feuchten vor dem Einsteigen ihre Hosen an und verlassen den Zug mit frisch gepresster Bügelfalte – manchmal allerdings mit mehr als einer je Hosenbein.
U-Bahnen sind wohl auch ein Grund dafür, dass es wenige dicke Japaner gibt ...
Und ein letzter Rat für Japanreisende, Ab- und Anreisezeiten sollten die Stosszeiten berücksichtigen, denn ein Einsteigen mit Reisegepäck kann man getrost vergessen, zu Stosszeiten gibt es keine höflichen Japaner mehr.