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Der Begründer und Herr Yamamoto

Kawaraban Nr. 76

12/2008

vom Leiter des Tendokan, Kenji Shimizu

Ich bin überrascht, wie schnell die Jahre verflossen sind. Auch von diesem Jahr ist nur noch wenig übriggeblieben, und wir feiern im nächsten Jahr das 40-jährige Gründungsjahr des Tendokan. Wenn ich nun zurückdenke, sind diese Jahre wie im Nu vergangen. Und wenn ich sehr weit in die Vergangenheit zurückblicke, kommen sie mir vor wie ein sehr langer, hinabführender Weg, und verschiedentlich gab es recht schwierige Situationen, als ob man mit einem kleinen Boot den Ozean überquert und dabei unter Unwetter und Taifunen leidet.

Anfänglich in jenen Tagen, als ich beim Begründer des Aikido, Morihei Ueshiba, Uchi Deshi wurde, war der Begriff ‘Aikido’ in der Bevölkerung nicht sehr bekannt, und wenn ich den Menschen diesen Beruf sagte, erhielt ich als Antwort die Gegenfrage „Wie bitte?!“. Das Fortschreiten auf diesem Weg nach dem Verlassen der Universität  bedeutete für mich wirklich den Beginn einer Reise in eine unbekannte Welt. Meine Mutter war sehr dagegen, aber ich war trotzdem hartnäckig egoistisch und bin meinen eigenen Weg gegangen.

Herr Hideyuki Budo, der mich dem Begründer vorstellte, war zu jener Zeit ein leitender Direktor einer großen Empfangshalle eines Gästehauses für ausländische Ehrengäste. Herr Budou hat von jemand, der mich gut kannte, von mir gehört und er gedachte, mich durch den Eintritt unter die Aufsicht von Morihei Ueshiba zu stellen. Herr Budo hat mir aufmunternd zugeredet: „Es gibt jemanden, der der letzte Budoka Japans genannt wird. Er heißt Morihei Ueshiba und ist eine Persönlichkeit, die nur alle 50-100 Jahre unter den Menschen zu finden ist. Wenn diese Gelegenheit versäumt wird, werden in Japan keine wahren Budoka mehr ausgebildet...“. Und durch diese Worte wurde ich am Ende überzeugt.

Damals gab Morihei Ueshiba den Offizieren des Heeres und der Marine Unterricht in Bujutsu bis zum 2. Weltkrieg. Der Begründer des Judo, Jigoro Kano, der die Techniken des Gründers persönlich bewertete, sagte mit großer Bewunderung: „Das ist das ideale Budo, das ich realisieren wollte!“, und er schickte vier seiner besten Schüler, die zu jener Zeit im Kodokan als die ‚Großen Vier’ bekannt waren, unter die Obhut des Begründers. Außerdem habe ich gehört, daß auch Onoe Kikugoro VI (1885-1949), der in der Taisho Periode (1912- 1926) als ausgezeichneteter Kabuki Schauspieler anerkannt war, ein enthusiastischer Schüler von ihm war.

Als mir im Jahre 1963 der Eintritt gestattet wurde, waren das gerade die letzten Jahre des Begründers. Glücklicherweise mochte er mich, und hat er mir Tag für Tag während der Unterrichtstunden Unterweisungen gegeben. Aber dabei gab es eine Sache, die mir Sorge bereitete. Weil der Begründer, wo immer er sich auch aufhielt, ständig seine Stimme erhob und rief: „Wo ist Shimizu. Wo befindet sich Shimizu?“, sorgte ich mich, ob das bei den anderen Uchi Deshi nicht zu unangenehmen Gefühlen führen könnte. Aber ich absolvierte mühelos ein Vielfaches des Trainings der anderen Schüler, und daß ich nach 3 Jahren den 4. Dan erhielt, war auch ein Rekord.

In der ersten Hälfte der 60er Jahre hatte die 2. Wachstumsperiode in Japan noch nicht begonnen, und Japan war noch nicht zu Wohlstand gelangt (Unter dem Bretton Woods System wurde der Wechselkurs bis 1971 fixiert. /Anm. Übersetzer). Es war die Zeit des billigen Yen, als man für 1 Dollar 360 Yen erhielt. Es hatte den Anschein, als ob beim Körper die Knochen nur über die Muskeln zusammengehalten wurden, weil das Essen aus Geldmangel armselig war. Eines Tages sind wir ins Sentou (öffentliches Badehaus) gegangen. Und dabei begegnete ich einem Mann mittleren Alters, der am ganzen Körper tätowiert war. Ich hatte befürchtet, daß er einen Streit vom Zaun brechen würde, weil er ein Galgengesicht hatte, aber denoch lobte er mich: „Hallo Bruder, Du hast ja eine Superfigur“, und es gibt immer noch Momente, in denen ich mich über diese überraschenden Worte belustigen kann.

Nun ja, als ich 6 Jahre später (im Jahr 1969 als O-Sensei starb) den Tendokan gründete, trat gleich im Anschluß ein Schüler namens Keiichi Yamamoto ein. Er besaß Gesichtszüge wie jemand, der sich mit seiner Geburt um mehr als 100 Jahre geirrt hatte. Er konnte seinen Stolz hinunterschlucken, seine Persönlichkewit erquickte die Menschen, die mit ihm zusammen waren, und er war vier Jahre älter als ich. Herr Yamamoto fand nach seinem Abschluss an der Tokyo Shosen Daigaku (Tokyo University of Mercantile Marine/Anm. Übersetzer) eine Anstellung bei Kawasaki Kisen (eine japanische Reederei/Anm. Übersetzer), danach wechselte er zu Det Norske Veritas (eine unabhängige Stiftung der Norwegischen Schiffklassifikation/Anm. Übersetzer) und führte dann in Hiroshima Geschäfte im Zusammenhang mit der Schifffahrt aus. Im Dojo hat er sich bei vielen Gelegenheiten stark eingesetzt und den Tendokan immer unterstützt, und wenn man die Geschichte des Tendokan schreibt, darf sein Name nicht unerwähnt bleiben. Ich hatte mir insgeheim gedacht, daß die Begegnung mit ihm ein Abschiedsgeschenk von Ueshiba Sensei gewesen sein könnte.

Er konnte seine eigenen Angelegenheiten zurückstellen; er war ein so sehr gerechter und sympathischer Mensch, daß er, auch wenn es sich um fremde Angelegenheiten handelte, wegen seines Sinnes für Gerechtigkeit nicht unbeteiligt bleiben konnte. Überdies hat er nie mit einer Wimper gezuckt, auch wenn eine Gefahr drohte, und er war bereit, jemanden zu retten, ohne Rücksicht auf seinen eigenen Kopf. „Wenn die Frau, die man eben gerade jetzt kennengelernt hat, um Hilfe ruft, geht man für sie durchs Feuer“, war zum Beispiel eine seiner Bemerkungen. Er war genau wie ein lebendes Vorbild, das den Bushido-Geist von früher verkörperte.

Als meine jetzt verstorbene Mutter zu jener Zeit nach Tokyo kam, ergab sich die Gelegenheit für verschiedene Gespräche mit Herrn Yamamoto. Weil meine Mutter nur den Kyushu Dialekt sprechen konnte, hat Herr Yamamoto sich wohl den Kopf zerbrochen, und ich kann mich an eine sehr erfreuliche Begebenheit erinnern. Meine Mutter meinte mit breitem Lächeln: „Herr Yamamoto hat sich sehr lobend über Dich geäußert. Wir haben bis zu dem Punkt gesprochen, daß die Begegnung mit Dir sein Leben verändert hat, aber was in aller Welt ist denn so gut an Dir?“ (in Kyushu Dialekt gesprochen/Anm. Übersetzer)

Es kann durch aus sein, daß ich, der sich wiederholt den Eltern gegenüber pietätlos verhalten hat, am Ende nun doch ein wenig Pietät gegenüber meinen Eltern zeige. Jener Herr Yamamoto ist 72 Jahre alt geworden und vor kurzem in diesem Alter an Prostatakrebs gestorben. Das ist sehr schade, und das Gefühl der Trauer und Einsamkeit wird nicht abnehmen.

Von Herzen falte ich meine Hände zum Gebet für das Glück in einer anderen Welt.

© übersetzt von Ichiro Murata und Peter Nawrot 03/2009