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Die Wiederentdeckung der weiblichen Stärke

Kawaraban Nr. 27

07/1996

von Kenji Shimizu

In letzter Zeit ist die Zahl der sehr eifrig trainierenden Schüler im Tendokan gestiegen. Darunter befinden sich sechs bis sieben Schüler, die ungewöhnlich eifrig sind, und vier, fünf davon sind Frauen. Diese Tatsache kann man nicht anders als bewundernswert bezeichnen. Das gewöhnliche Training macht zwar Spass, doch spürt man auch Schmerzen, wenn man ständig morgens und abends trainiert. Aikidō ist in der Tat ein Studium, das man nicht allein des Spasses wegen betreibt, da das Training auch mit Qualen verbunden ist. Mit ganz gewöhnlicher geistiger Einstellung können die Schmerzen und die Pein nicht verdrängt und das Training länger als ein Jahr durchgehalten werden. Ich nehme den Hut ab vor diesen Menschen. Ja, selbst mir kommen manchmal Zweifel, und ich stelle mir die Frage: “Ist es richtig, was ich als Lehrer mache?.......”. Jeder Tag lehrt mich viel Neues.

Nun zu etwas anderem. Der Trainer Herr Ōmatsu, der die japanische Frauen-Volleyballmannschaft von Nichibō Kaizuka bei den Olympischen Spielen in Tokyo (1964) zu Gold geführt hatte, äusserte die folgenden Worte, die mir bis jetzt im Gedächtnis haften geblieben sind: “Wenn die Wettkämpfer Männer gewesen wären, hätte ich sie nicht so trainieren können.” Frauen vertrauen ganz und gar auf den einmal gewählten Weg, besitzen grosse Beharrlichkeit und lassen sich nicht vom Weg abbringen. Auf der anderen Seite fühlen sie sich natürlich auch in gewissen Bereichen unsicher, doch lassen sie eine Stärke spüren, die Männern nicht zu eigen ist.

Es hatte einmal jemand gesagt: “Das heutige Japan existiert nur wegen der Geduldsstärke der japanischen Frauen”. Das ist wohl recht zutreffend ausgedrückt. Auch meine Mutter war so. Sie hatte die langen, bitteren Tage ertragen, die dem geschäftlichen Zusammenbruch meines Vaters folgten, und uns aufgezogen.

Obwohl ich kein Humanist bin, empfinde ich folgendermassen: Männer sagen zwar grossartige Dinge, doch sind sie nicht eigentlich wie unordentliche Tiere? Ihre Worte und Taten sind viel zu unklar. Betrachten wir die heutigen Politiker. Was für Herren sind das? Ich sehe niemanden mit Entschlossenheit und Mut.

Der Erfolg des Teamchefs der Profibaseballspieler, Herrn Nomura, so wie der Erfolg des Champions Ochiai von den Yomiuri Giants ist, wie Sie wahrscheinlich alle wissen, auch zum grossen Teil der Kraft ihrer Frauen zu verdanken.

Der Schriftsteller Raymond Chandler schreibt in einem seiner Romane folgenden grossartigen Absatz: “Männer, die nicht stark sind, sind nicht lebensfähig. Wenn sie aber nicht gütig sind, haben sie kein Recht auf Leben.” Das lässt sich aber nicht auf die jungen Burschen im heutigen Japan anwenden. Von klein auf haben sie keine Erziehung erhalten. So sind Körper wie auch Geist verweichlicht worden. Heutzutage sagt man häufig über die japanische Erziehung, dass sie nicht die Bildung fördere, sondern das Vollstopfen mit Wissen an erster Stelle steht. Ich denke, es ist ein ungeheurer Irrtum zu glauben, dass durch das Vermitteln von Wissen auch gleichzeitig Bildung übermittelt wird.

Dürfte ich vielleicht zum Schluss noch erzählen, was mir mit meinem Kind passiert ist. Es war letzten Sonntag. Ich war mit meinem Sohn (zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre) auf dem Heimweg vom Training. Im Zug schäkerte ein junges Pärchen heftig und ungehemmt vor aller Leute Augen miteinander, was von schlechtem Benehmen zeugte (entschuldigen Sie die etwas unglückliche Ausdrucksweise). Ich fand es umso unangenehmer, als es vor den Augen meines Sohnes geschah. Als wir den Zug verliessen, fragte ich meinen Sohn, was er bei einem solchen Anblick dächte. “Ja derartige Vorfälle passieren häufig”, antwortete er. Ich war erleichtert zu hören, dass er so dachte wie ich. Was wäre gewesen, wenn die Antwort möglicherweise, “Ich denke mir nichts dabei” gewesen wäre? Meine elterliche Seele dachte, das Aikidōtraining zeigt wohl schon kleine Erfolge.

Japan gehört zu den 18 fortgeschrittensten Nationen. Entsprechend sollte auch das Benehmen excellent sein. Ich möchte die gute, alte japanische Kultur im Tendōkan wahren und weitergeben.

© übersetzt von Birgit Lauenstein und Peter Nawrot 01/2003