Zum Inhalt springen

Eine gesunde Gesellschaft

Kawaraban Nr. 16

10/1993

von Kenji Shimizu

Für uns als Lebewesen gibt es viele Dinge, auf die wir achten müssen, doch besonders wichtig ist es, das eigene Herz zu öffnen.

Auch wenn wir dies mit dem Kopf verstehen, fällt es uns besonders bei Fremden schwer, an deren Wohl zu denken.

In den 16 Jahren, die ich in Europa und besonders in Deutschland unterrichte, habe ich den Individualismus der Europäer klar erkannt. Japan auf der anderen Seite ist wie eine Firma, deren Lebensader aus den Firmenangestellten besteht. Die japanische Gesellschaft sorgt sich sehr um ihre Firmenmitglieder, Familien und Verwandten, ist aber Fremden gegenüber gleichgültig und empfindungslos.

Vor einigen Jahren las ich einen interessanten Zeitungsbericht. Ein Japaner und sein amerikanischer Freund fuhren eines Tages zum Wandern in die Berge. Unterwegs sagte der Japaner plötzlich, daß sich angeblich ein Löwe in dieser Gegend von Zeit zu Zeit zeigen würde, entnahm seinem Korb ein Paar Sportschuhe und begann, die Schuhe anzuziehen. Auf die lachende Bemerkung des Amerikaners, daß er dem Löwen damit nicht entkommen könne, antwortete der Japaner, daß es ja genüge, schneller zu sein als der Amerikaner, worauf der Amerikaner mit großer Bestürzung reagierte.

Ich denke, dass das ausgezeichnet auf das heutige Japan passt. Wirtschaftlich gesehen ist Japan eine fortgeschrittene Industrienation, doch gibt es Gründe, Japan gesellschaftlich ein Entwicklungsland zu nennen.

Die Japaner früherer Zeiten zeigten mehr Stärke und waren hoch sensibilisiert in Fragen des Anstandes. Seit wann mögen sich die Sitten in Japan so verschlechtert haben? Warum haben sich die Japaner so verändert und sind so schwach geworden?

Gute Sitten dürfen nicht zeit- oder gesellschaftsbedingt sein.

Von wesentlicher Bedeutung ist, daß sich jeder einen gesunden Körper und Geist schafft, denn dies hängt mit der Erschaffung einer menschlichen und gesunden Gesellschaft zusammen.

Sind wir jetzt in Japan nicht an einem Zeitpunkt angelangt, wo sich jeder Gedanken über die seelische und körperliche Balance machen sollte.

Dazu ist es notwendig, zuerst den Geist zu nähren und dann dessen Widerstandsfähigkeit und auch die Widerstandsfähigkeit des Körpers. Heutzutage scheint es, als ob wir nicht mehr nach der Stärke von Körper und Geist strebten, oder wie denken Sie darüber?

Wir, die wir uns mit Aikido beschäftigen, wollen die Tradition Japans bewahren und bemühen uns Tag und Nacht, um unseren Stolz nicht zu verlieren.

© übersetzt von Birgit Lauenstein und Peter Nawrot 05/2003