Etikette und Kriegskunst
Kawaraban Nr. 2
04/1990
von Kenji Shimizu
Ursprünglich müssen die Japaner ein Volk gewesen sein, das die Etikette hoch geschätzt hat. Aber sind wir nicht heute zu einer Gesellschaftsform herabgesunken, wo dieses Verhalten abhanden gekommen ist?
Mit der Etikette, von der ich spreche, meine ich nicht ein einfaches Verbeugen oder formale Höflichkeitsregeln sondern eine viel selbstverständlichere Etikette.
Zum Beispiel sollte man, wenn man unbeabsichtigt in einem überfüllten Zug einer anderen Person auf die Füsse tritt, ohne zu zögern „Entschuldigung“ sagen. So eine einfache und selbstverständliche Sache ist überaus wichtig. Mit diesem einen Wort werden die Gefühle des Gegenübers beruhigt, der für einen Augenblick Schmerz verspürt hat und Rachegelüste hegte.
Selbst wenn man aus einem Streit als Sieger hervorginge, ist es das Beste, überhaupt nicht zu streiten. „Durch Etikette Vorsorge zu treffen“ ist eine Einsicht, die Streit vermeidet.
Ich möchte damit sagen, dass eine gewalttätige Gesellschaft entsteht, in der nur die Stärksten überleben, in der sich das Unrecht durchsetzt und die Vernunft zurücktritt, wenn wir aus Ängstlichkeit die Augen vor Fehlern verschliessen. Was Fehler betrifft, so muss man sie verurteilen und es ist notwendig, Vernunft zu zulassen und Vorsorge zu treffen. Diese Vorsorge wird Kriegskunst (bu) genannt.
Seit alters her wird gesagt : “Die Kriegskunst beginnt mit der Etikette und endet mit der Etikette“. Kriegskunst und Etikette aber sind zwei Seiten ein und derselben Sache. Beide verhindern die Entstehung einer gewalttätigen Gesellschaft, in der nur die Stärksten überleben.
Es ist auf Verständnis gestossen, älteren Menschen oder Körperbehinderten in Verkehrsmitteln ohne zu zögern Sitzplätze anzubieten.
Wenn es in notwendigen Situationen nicht möglich ist, den Starken Einhalt zu gebieten und den Schwachen zu helfen, wird keine gesunde, menschliche Gesellschaft entstehen können.
Je nach Angelegenheit und Umständen müssen wir Fehler tadeln, die Situation lenken, Mut und Technik stärken und schnell (Vorzeichen von) Mordlust erkennen. Ausserdem müssen wir uns passende Körperbewegungen aneignen, um im richtigen Moment augenblicklich Massnahmen zu ergreifen. Dazu ist es notwendig, dass Nervensystem und Muskelapperat schnell und geschickt aufeinander reagieren.
Heutzutage muss man über die Unsensibilität der Umwelt gegenüber und die Abgestumpftheit bei der Belästigung von Mitmenschen erstaunt sein. Liegt es aber vielleicht nicht daran, dass die gesamte Gesellschaft in einer Weise abgestumpft ist, die in keinster Weise zu erwarten war?
Wenn die Samurai in früheren Zeiten Veränderungen in ihrer Umgebung nicht sofort wahrgenommen haben und prompt darauf reagierten, konnte das den Verlust des Lebens bedeuten. Wer unsensibel war, konnte nicht lange überleben.
Man kann leben, auch wenn die Muskeln schwach sind, doch wenn Sensibilität fehlt, ist es tödlich. Enthält nicht deshalb eine Gesellschaft, die bezüglich ihrer Umwelt unsensibel und abgestumpft ist, eine tödliche Schwäche?
© übersetzt von Birgit Lauenstein und Peter Nawrot 01/2003